Freud und Leid geteilt

Hansi, der Barackenjaust, sorgt sich um seinen Vater

Durch den Abbau des Mergels für die Ziegelei entstand ein riesiges Loch im Gelände. Und dieses Loch wurde seit 1950 mit dem Müll der Gemeinde gefüllt. So entwickelte sich schließlich eine Mülldeponie in der Nähe der Baracken.

War es am Anfang noch der normale Hausmüll, so kamen später die mehr oder weniger stark belasteten Abfälle der sich neu entwickelnden Gewerbebetriebe hinzu. Durch diesen Müll, der nicht nur das Grundwasser verseuchte, sondern ständig brannte und qualmte, war die Lebensqualität der umliegenden Anwohner stark beeinträchtigt.

Unter großer Anteilnahme wurden verunglückte Bergleute beigesetzt. Der Trauerzug führte durch die Gemeinde. Foto: Gemeindearchiv


Aber bis zu unserem Verlassen der Baracken 1958 hielt sich das alles noch in Grenzen. Die Kippe bildete für uns Kinder vielmehr einen idealen Spielplatz. Wir durchsuchten die Halde nach Brauchbarem. Beliebt war vor allem Schrott, insbesondere Buntmetall. Das wurde dann nämlich an den „Klüngelkerl“ verscheuert. Dass er uns dabei nach Strich und Faden betrog, fiel uns erst später auf. Aber wir lernten schnell, und klauten ihm das vorne verkaufte Zeug hinten wieder vom Wagen.

Hin und wieder waren in dem Müll auch verwertbare Lebensmittel zu finden, die dann an die Haustiere verfüttert wurden. Ich erinnere mich noch an eingepackte Stork-Ein-Pfennigs-Karamellen, die an Ort und Stelle vertilgt wurden. Wenn wir abends von so einem Müllkippen-Abenteuer zurückkamen, rochen wir nicht immer angenehm und konnten je nach Grad der Verschmutzung mit einer gehörigen Tracht Prügel rechnen. Wir schrieen wie am Spieß, um Schmerzen vorzutäuschen und gelobten Besserung. Wir kreuzten dabei aber die Finger auf dem Rücken. Schließlich waren wir diese Art der erzieherischen Maßnahmen gewohnt. Und so kann man sagen, dass nicht nur unser Durchhaltevermögen, sondern auch unser Immunsystem durch den Aufenthalt auf der Kippe gestärkt wurde.

Das Jahr 1950 war für mich ein besonderes Jahr: Im Mai wurde meine Schwester Margit geboren. Es war, wie damals üblich, eine Hausgeburt. Außer der Hebamme waren zur Verstärkung Nachbarn und Verwandte hinzugekommen. Ich weiß gar nicht mehr genau, wer alles, nur an meine Tante Irmgard kann ich mich noch erinnern. In Bönen war nämlich gerade Kirmes, und Tante Irmgard wurde auserkoren, mit mir diese zu besuchen. Das sollte mich ablenken.

Ein Jahr später kamen meine Eltern auf die glorreiche Idee, mir einen Platz im Kindergarten zu besorgen, in Bönen-Ost, bei Tante Anna an der Bahnhofstraße. Allein der Anblick der strengen Dame und das Tragen meiner „Dienstkleidung“ in Form einer Schürze ließ mich erschaudern. Nach einer Woche unsäglichen Leidens – für mich und wohl auch für Tante Anna – durfte ich wieder an meiner geliebten Baracke bleiben und fast grenzenlose Freiheit genießen.

Unfälle unter Tage belasten Familien

Gerd Topel arbeitete als Bergmann in Bönen. Foto: pr

Es gab auch sonst viele Erlebnisse,die mich geprägt haben. Mein Vater war als Bergmann auf der Schachtanlage Königsborn III/IV unter Tage tätig. Es war nicht sein Traumberuf, er war Berufssoldat im Zweiten Weltkrieg. Aber um die Familie über die Runden zu bringen, hatte er keine andere Wahl. Da er im normalen Gedinge nicht das Geld verdienen konnte, um eine Familie mit drei Kindern zu ernähren, musste er Doppel- und Nachtschichten fahren. Weil er körperlich nicht der Kräftigste und durch einen Handgelenkdurchschuss im Krieg zusätzlich gehandikapt war, hatte er mehrere Unfälle. Es war schwer für meine Mutter und uns Kinder, wenn es nachts an der Fensterlade klopfte und mein Vater in Begleitung und mit Verbänden zu Hause ankam. Meine Mutter litt darunter, war aber heilfroh, dass nichts Schlimmeres passiert war.

Unser Flurnachbar hatte weniger Glück. Es war in der Osterzeit, als eine Abordnung der Zechenverwaltung seiner Frau die schlimme Nachricht überbrachte. Für mich war es das erste Mal, dass ich mit einem Todesfall in unmittelbarer Nähe konfrontiert wurde. Die Beerdigung erfolgte unter großer Anteilnahme der Bevölkerung, da der Bergbau der Hauptarbeitgeber in der Gemeinde war. Der Tote wurde in der Leichenhalle der Zeche aufgebahrt. Von dort aus formierte sich der Trauerzug unter dem Geleit der Bergmannskapelle zum Friedhof in Bönen. Nur langsam kehrte nach der Beerdigung in unserer Baracke wieder der normale Alltag ein. In unserer Familie aber machte sich Unbehagen und die Angst breit, dass meinem Vater auch so ein schlimmer Unfall passieren könnte.

Neben uns wohnte noch ein kinderloses Ehepaar. Der Mann arbeitete ebenfalls auf der Zeche. Sie war eine freundliche Frau, von der schon mal die eine oder andere Süßigkeit kam. Mich hatte sie wohl besonders ins Herz geschlossen und gab mir ab und zu das Geld für das Kino, wenn es zu Hause dafür mal wieder nicht reichte. Immer wenn es auf der Zeche Geld gab, Bargeld in der Lohntüte natürlich, holte sie ihren Mann vom Ledigenheim an der Zechenstraße ab, damit er nicht einen Großteil an der Theke vertrank. An einem „Geldtag“ nahm sie mich und Spitzi, den Hund der Nachbarin mit, um ihren Mann abzuholen. Im Ledigenheim setzte sie sich zu ihm an die Theke und becherte fleißig mit. Ich bekam Limonade und eine Bockwurst, Spitzi ebenfalls eine Wurst. Die konnte er offenbar nicht vertragen und kotzte in die Kneipe. Meine Nachbarn waren nicht mehr in der Lage das Erbrochene zu entfernen, also musste ich es tun. Zuhause war unterdessen eine Suchaktion angelaufen, weil niemand wusste, wo ich war. Als mein Vater schließlich im Ledigenheim auftauchte, war ich heilfroh ihn zu sehen. Die Situation dort machte mir Angst. Ich wurde nicht bestraft, stattdessen gab es eine blitzsaubere Gardinenpredigt an die Nachbarn. Von da an war das Verhältnis zu ihnen gestört – und es war vorbei mit dem Kinogeld.