Hansi, der Barackenjaust

Erinnerungen an eine Kindheit in der Nachkriegszeit

Zwar wurde ich erst ein Jahr nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, doch durch die Berichte über die Flucht der Menschen aus Syrien und anderen, von Terror und Krieg heimgesuchten Ländern, ist mir die meiner Verwandten aus ihrer Heimat in Erinnerung gekommen. Eigenartigerweise haben sie nie viel davon erzählt, und wenn, dann nur andeutungsweise.

Über die Nachkriegszeit, die meine Kindheit war, habe ich hingegen für meine Kinder und Enkel geschrieben. Diese Erzählung ist die Grundlage der nun folgenden Berichte. Sie werden in den kommenden Monaten auf der Lesebrillen-Seite zu lesen sein. Vorab nutze ich einige Zeilen meiner Schwester Renate, die sie vor einigen Jahren aus Anlass ihres 70. Geburtstages schrieb:

Hans Topel erlebte seine Kindheit in Bönen. Vieles ist ihm gut in Erinnerung geblieben. Foto: PR

„Wenn man 70 Jahre alt wird, hat man so manchen Sturm erlebt. Bei mir machte er sich bemerkbar, als ich fünf Jahre alt war. Es war ein Sturm, der aus dem Osten kam, und der uns aus unserer Heimat Pommern vertrieben hat. Mein Zuhause war ein kleines Dorf, Krampe, heute Krepa, im Kreis Stolp. Ich spielte mit Irmchen im Garten, als sie rief: ‘Die Russen kommen!’.

Am 6. März 1945 ging das ganze Dorf auf die Flucht. Mit dem Schiff wollten wir von Gotenhafen aus in den Westen gelangen. Drei Tage später mussten wir jedoch umkehren, da der Treck von Russen überrollt wurde. Als Fünfjährige habe ich alles genau registriert: Die Angst der Mütter, Vergewaltigungen, Erschießungen, das ‘Dawei, dawei’ der Russen. Ich sehe noch die Feuer der Männer am Straßenrand. Sie brieten ganze, geklaute Schweine und steckten den deutschen Kindern heiße, fettige Fleischstücke zu. Sie lachten über das ganze Gesicht, wenn sie sahen, dass es denen schmeckte. Sie hatten die Arme voller Uhren, die sie den Flüchtlingen abgenommen hatten. Wir kehrten also wieder um und blieben bis Oktober zu Hause. Dann ging es wieder los, in ein Auffanglager in der Nähe von Wismar. Dort stand am 1. Januar 1946 mein Vater vor der Tür. Er holte uns ab – über die „grüne Grenze“ ging es in den Westen. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete er schon in Bönen auf der Zeche. Der Krieg war aus, der war vorüber! Nun hieß es, eine neue Existenz aufbauen. Wir kamen nach Bönen an die Wiedeystraße. Dort wurde mein Bruder Hans Jürgen geboren.“

Bis 1947 blieb unsere Familie dort, dann zogen wir in das Barackenlager am Kletterpoth, in die Baracke Breiterweg B5. Meine Familie, das waren meine Eltern Elisabeth und Gerd Topel, sowie meine Schwester Renate. Das Barackenlager lag am Rande des Ziegeleibusches in unmittelbarer Nachbarschaft zur Ziegelei, die damals kräftig produzierte. Unweit des Lagers gab es eine Mülldeponie, die im Laufe der Zeit an Größe und Bedeutung sowie Belästigung für die Anwohner zunahm. Diese drei Örtlichkeiten bestimmten ab sofort einen großen Teil meines Lebens.

Das Barackenlager diente in Kriegszeiten als Unterkunft für ausländische, vorrangig russische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene. Die neuen Bewohner bildeten nun ein gemischtes Völkchen und setzte sich vorwiegend aus Flüchtlingsfamilien und Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten zusammen. Vor allem anfangs herrschte dort Enge. Das führte zwischen den einzelnen Parteien schon mal zu Reibereien, die manchmal in Handgreiflichkeiten ausarteten. Im Großen und Ganzen herrschte aber Harmonie und gegenseitige Hilfsbereitschaft – alle standen am Neuanfang, und es gab noch keine Standesunterschiede. Außerdem mussten die Bewohner zusammenhalten: Als Flüchtlinge waren sie bei den einheimischen Westfalen nicht immer willkommen. Dies mussten besonders wir Kinder erfahren. In den Augen der Dorfkinder waren wir die „Barackenblagen“. Unsere Antwort darauf war, dass wir uns abschotteten und gegenseitig schützten. Vor allem auf dem Schulhof hatten wir so schnell den Ruf der Rabauken inne.

An der östlichen Seite der Baracken wurde der Mergel gewonnen. Dort gab es einen etwa fünf Meter hohen Steilhang. Davor verlief ein Gleis, auf dem ein Schaufelradbagger fuhr und den Mergel abhobelte. Bevor der Bagger seine Arbeit aufnehmen konnte, wurde der Mergel auf der gesamten Hangbreite losgesprengt. Dazu wurden Löcher in den Hang gebohrt, mit Sprengstoff gefüllt und die einzelnen Ladungen mit Schießdraht verbunden. Dieser Draht war ein beliebtes Sammelobjekt für uns, da er vielseitig einsetzbar war.

Der Mergel wurde mit einer Lorenbahn zur Ziegelei transportiert. Dort begann die Produktion. Die geformten Lehmziegel wurden zum Trocknen in überdachte Trockenplätze gebracht. Anschließend wurden sie im Ringofen am Kletterpoth gebrannt. Dieser Ofen war besonders zur kalten Jahreszeit beliebt als Aufwärmplatz bei uns Kindern. Leider waren wir vom Ziegeleibetreiber nicht gern gesehen, und die Wächter der Anlage versuchten stets, uns vom Gelände zu vertreiben. Das erwies sich allerdings als äußerst schwierig, da wir es auch darauf anlegten, sie zu ärgern.

Die gesamte Anlage war für uns ein großer Abenteuerspielplatz. Die Trockenanlage bot uns selbst bei „Mistwetter“ Platz zu Versteckspielen, die Abbaufläche wurde als Mutprobenhang genutzt: Es ging die Fünf-Meter-Steilhangfläche hinunter, dann folgte ein Sprung über die Baggergleise. So mancher von uns hatte dabei „Kopfkontakt“ mit der anderen Gleisseite. Manchmal näherten wir uns auch der Abbaufläche während der Sprengung, obwohl die durch Sirene angekündigt wurde. Nach der Schließung der Ziegelei wurde das Gelände als Mülldeponie genutzt. Heute ist sie – abdeckt und aufgeforstet – Teil des Mergelbergwaldes.

Die Zufahrt zur Barackenanlage erfolgte vom Kletterpoth aus auf einem Weg, der einmal im Jahr mit Kokereischlacke aufgefüllt wurde. Dann war er mit dem Fahrrad nur schwer zu befahren. Von der halbkreisförmigen Zuwegung erfolgte der Zugang zu den Baracken. Eine Anlage bestand aus der Wohnbaracke mit vier Eingängen zu je zwei Wohnungen und dem davor liegenden Schuppen. In ihnen wurden Kohle und Holz aufbewahrt. Und während ein Großteil der Häuser in Bönen noch mit einem Plumpsklo im Hof ausgestattet war, hatten wir schon eine Kloschüssel mit Druckwasserspüler. Es gab zwar noch kein weiches Toilettenpapier, aber für unsere unempfindlichen „Ärsche“ tat es auch Zeitungspapier. Das trug sogar noch dazu bei, unsere Lesefähigkeit zu stärken: Ein Stück Papier erfüllte also sowohl Lehr- als auch Reinigungsauftrag.

Zwischen den Baracken und den Schuppen lag der Hof. Dessen Untergrund bestand ebenfalls aus Kokereischlacke und sorgte so bei allen Kindern für ein unverwechselbares Kennzeichen: unter der Haut eingewachsene Aschereste, die von Stürzen und Keilereien herrührten. Auf diesem Hof waren die Wäscheleinen angebracht. Um die Waschtage entbrannte schon mal ein heftiger Streit zwischen den Mietparteien. Da ging man durchaus mit einer Leinenstütze aufeinander los. Wir Kinder sahen aus sicherer Entfernung zu, und drückten je nach Sympathie oder Zugehörigkeit, der einen oder anderen Partei die Daumen. Hinter den Schuppen befanden sich die alten Bunkeranlagen, die uns einen weiteren Spielplatz boten. Das Tageslicht war spärlich darin, es gab keine Fenster. Teilweise standen die Bunker unter Wasser, Gerümpel und Schutt bedeckte den Boden. Von Außen konnten wir nicht gesehen werden, es war also ideal zum Spielen von Cowboy und Indianer und anderen Versteck- und Kriegsspielen.

Die Mieter hatten sich hinter der Baracke kleine Gärten angelegt. Die daraus gewonnenen Produkte wurden zum Großteil eingeweckt. Manche hielten zudem in provisorischen Ställen Hühner und Kaninchen. Aber auch Blumenbeete wurden mit liebevoller Hand angelegt. Besonders ist mir eine Pfingstrose in Erinnerung geblieben, deren Knollen bei jedem späteren Umzug neu eingepflanzt wurde. Ein Ableger blüht noch heute im Garten.