Lieblingslehrer und Turnübungen

Hansi, der Barackenjaust, erinnert sich an seine Schulzeit in Bönen

Ab 1953 musste ich einen Teil meiner Freiheit gegen den Unterricht in der Hellwegschule eintauschen. Entgegen der Erwartungen meiner Eltern hatte ich aber keine größeren Probleme, mich einzugewöhnen. Das lag in erster Linie an meinem Lehrer, Herrn Brasse. Durch seine ruhige und besonnene Art fühlte ich mich in dem relativ starken Klassenverband recht sicher und gut aufgehoben. Das war umso erstaunlicher, da ich der einzige Schüler aus den Baracken war, der eingeschult wurde.

Vorbei war es mit der fast Grenzenlosen Freiheit. 1953 wurde Hans Topel in die erste Klasse der Hellwegschule eingeschult. Foto: Topel

Das Lernen fiel mir leicht, und meine Leistungen waren recht gut. Auch wenn es schon mal zu den üblichen Machtspielen zwischen den Gleichaltrigen kam – es gab auch einige ältere Schüler in der Klasse, nämlich die „Sitzenbleiber“ –, half mir mein Durchsetzungsvermögen, das ich mir im Laufe der Zeit aufgrund des manchmal rauen Umgangstones im Barackenlager angeeignet hatte. Der schlechte Ruf der „Barackenblagen“ sorgte für einen gewissen Respekt. War mein Gegner mir dennoch überlegen, half mir meine enorme Schnelligkeit, mich einer direkten Gefahr zu entziehen.

Im Laufe der Schuljahre lernte ich weitere Lehrkräfte kennen, zum Beispiel den „Pius“. Er praktizierte die Prügelstrafe. Die war damals durchaus noch üblich. War Pius sich über die Person des Übeltäters nicht ganz sicher, scheute er sich nicht, mit seinem Rohrstock die Kollektivstrafe durchzuführen. Alle Jungen wurden damit erzogen, den Mädchen traute er so etwas nicht zu. Trotzdem war er ein guter Lehrer, der der Musik sehr zugetan war. Sein Lieblingsinstrument war die Geige. Sie begleitete unseren morgendlichen Choral vor dem Unterricht. Pius stimmte sein Instrument vor jeder Benutzung. Dabei hielt er das Ohr direkt an die Saiten, aus seiner Nase entwichen Geräusche, die an das Schnauben eines Walrosses erinnerten.

Feuchte Krümel auf dem Butterbrot

Ein weiteres Merkmal war seine feuchte Aussprache. Wer in seiner Nähe saß, konnte sich dem feinen Sprühregen nicht entziehen. Mein Platz war in der ersten Reihe. Bei Regen wurde die Essenspause in dem Klassenraum durchgeführt. Pius setzte sich dann auf einen der vorderen Tische, meistens auf meinen, packte sein Butterbrot aus und begann zu speisen. Zu meinem Leidwesen fühlte er sich bewogen, uns dabei zu unterhalten. Das hatte zur Folge, dass die im Mund angefeuchteten Brotkrumen auf meinem Butterbrot landeten. Für mich hieß das: Kein Frühstück, Butterbrot angeekelt einpacken, irgendwo verfüttern und ja nicht mit nach Hause nehmen. Ansonsten wäre ich unangenehmen Fragen ausgesetzt gewesen und hätte am nächsten Tag eventuell nur ein kargeres Frühstücksbrot mitbekommen.

Der erste Schultag war für Hansi etwas ganz Besonderes. Foto: Topel

Pius war als Klassenlehrer für alle Unterrichtsfächer zuständig, auch für Sport. In Ermangelung eines Sportplatzes musste der Schulhof als Übungsstätte herhalten. Geturnt wurde in kurzer Sporthose – wenn vorhanden – und dem Unterhemd. Der Hauptbestandteil seiner Leibesübungen setzte sich aus drillhaftem Marschieren und Gymnastik, sprich Liegestütze, Hampelmann, Rumpfbeugen und Ähnlichem, zusammen. Viele seiner Übungen waren aus orthopädischer Sicht bestimmt nicht gesundheitsfördernd.

Auf dem Schulgelände befand sich nicht nur unsere evangelische Volksschule, sondern auch die Bismarckschule. Dort waren nur katholische Schüler untergebracht. Es gab zwar keinen Zaun oder eine Mauer zwischen den Pausenhöfen, aber eine imaginäre Demarkationslinie. Die bestand aus einer Rinne zwischen den Schulen, die man nur unter der Gefahr von Prügel von den jeweils anderen Glaubensbrüdern überschreiten durfte. Es gab damals noch keine Ökumene, auch nicht unter den Lehrern. Eigenartigerweise wurde die Trennung der Glaubensrichtungen nicht außerhalb der Schule, sprich beim Spielen, praktiziert, zumindest nicht in der Gemeinschaft der „Barackenblagen“.

Wettbewerb um die schönste Laterne

Zum Sankt Martinstag gab es stets einen großen Laternenumzug. Schon Wochen vorher begannen wir im Bastelunterricht damit, Laternen aus Pappe und buntem Ölpapier herzustellen. Es entstand ein richtiger Wettbewerb um die schönste Laterne. Während des Umzuges durch die Gemeinde wurden viele, vorher einstudierte Lieder gesungen. Diese Veranstaltung war ein Muss für alle Schüler. Anschließend gab es auf dem Schulhof einen stimmungsvollen Abschluss, der immer mit dem Lied: „Kein schöner Land in dieser Zeit“ und dem Schluss „Nun Brüder eine gute Nacht“ endete. Die Pausen verbrachten wir auf dem Schulhof.

Je nach aufsichtführendem Lehrer ging es dort mehr oder weniger turbulent zu. Beliebt war im Winter das wettkampfmäßige Werfen von Schneebällen in die Giebelspitze des Schulgebäudes. er seinen Schneeball am nahesten an die Giebelspitze platzierte, war Tagessieger. Das Wettkampffieber ging so weit, dass auch nach Unterrichtsschluss weiter geworfen wurde. Da war die Gefahr groß, dass man nicht pünktlich zum Essen nach Hause kam. So kurz war der Weg zu den Baracken schließlich nicht. Pünktlichkeit wurde bei uns groß geschrieben. Das Zuspätkommen hatte meist empfindliche Strafen zur Folge. Das Schlimmste, was einem passieren konnte, war Stubenarrest, und nicht wie das heute üblich wäre, Taschengeldentzug. Damit mussten wir ja ständig leben, Taschengeld gab es nicht – wovon denn auch?

Die Möglichkeiten, an ein paar Pfennige zu kommen, waren begrenzt. Hin und wieder fiel ein Groschen von Onkel oder Tante ab. Viele Möglichkeiten, Geld auszugeben, hatten wir aber ohnehin nicht. Das änderte sich Mitte der 1950er Jahre, als gegenüber der Woortsiedlung, neben der Ziegelei, ein Kiosk entstand. Der Inhaber, Herr Saul, erhoffte sich wohl durch Kunden aus der neu entstehenden „Blumensiedlung“ und denen aus den Baracken ein lukratives Geschäft. Er hatte wahrscheinlich recht damit. Seine Auswahl an Süßigkeiten war für uns sehr verlockend. Mit dem Abriss der Baracken verschwand dieser Kiosk dann.