Der Werwolf von Westerbönen

Titelblatt des Buches "The werewolf howls" aus der Reihe "Weird Tales"

Wenn Tante Inge, Tante Gertrud, Tante Anna und Oma Friedchen in den 60er Jahren an langen Winterabenden zusammen saßen, wenn der kalte Wind um die Häuser pfiff und und wenn das Kerzenlicht in der Guten Stube unheimlich flackerte, dann konnte ich als Kind das eine oder andere mal den unglaublichsten Geschichten lauschen. Wenn die Zungen der Westerbönener Frauen, vielleicht auch bedingt durch ein/zwei Likörchen, etwas lockerer wurden, ja dann kam das Gespräch mit leichtem Schauder auch im aufgeklärten 20. Jahrhundert schon mal auf den Werwolf, der hier durch die Felder und Auen zwischen Westerbönen und Weetfeld gezogen sein soll. Anfang des 18. Jahrunderts soll er hier gelebt haben und gar schaurig soll er gewesen sein.

Alles Altweibergeschwätz!

Als Teenager hörte ich die Geschichten auch noch Jahre später. Viele Details hatten sich geändert, doch alle waren immer noch fest davon überzeugt, dass es ihn gegeben hat, den Werwolf von Westerbönen. Gesagt habe ich nichts, aber gedacht habe ich sicher so etwas wie “Altweibergeschwätz”.

Später, bei den Recherchen zu diesem Projekt musste – oder soll ich besser sagen durfte – ich feststellen, dass auch in dieser abstrusen Geschichte ein Körnchen Wahrheit steckte.

In seiner “Westphälischen Geschichte” beschreibt der Historiker und Pfarrer Johann Dietrich von Steinen (1699 – 1759) den Fall eines “rechten Wunderkindes”, das im Jahr 1737 gestorben war. Im Laufe seines Lebens soll das Haar am ganzen Körper auf fast eine Elle lang gewachsen sein, 3 Maß Bier soll die Frau am Tag getrunken und mit männlicher Stimme gesprochen haben. Ihr großer Kopf und riesige Fettpolster auf den Schultern müssen auf die Zeitgenossen ein Angst einflößenden Eindruck gemacht haben.

Lavinia Fontana (1552–1614) war ein so genanntes Affenmädchen. Ihre Familie gilt als der älteste in Europa beschriebene Fall von menschlicher Überbehaarung.

Heute können wir der Beschreibung von Steinens folgend ziemlich sicher sagen, dass es sich bei der Unglücklichen um ein Frau gehandelt haben muss, die an Hypertrichose (menschlicher Überbehaarung) gelitten hat. Die Krankheit wurde um 1600 erstmals für Tognina Gonsalvus in Frankreich auf einem Gemälde dokumentiert. Menschen mit dieser seltenen Krankheit wurden oft an Höfen, später auch in Kuriositätenkabinetten zur Schau gestellt.

In Kombination mit den schon im Mittelalter weit verbreiteten Geschichten über Werwölfe war der Weg durch die Jahrhunderte bis zur Horrorgeschichte des Westerbönener Damenkränzchens nicht mehr weit.

Nun, ein echter Werwolf ist es also wohl nicht gewesen. Aber dennoch: Vielleicht hätte auch mir etwas mehr Demut bei der Aufnahme der Erzählungen damals gut zu Gesicht gestanden. Möge diese kleine Geschichte eine spätes Eingeständnis allzu unbeschwerter jugendlicher Überheblichkeit sein.

Der Mann mit der Löwenmähne. Unter der gestrickten Jacke ist die behaarte Brust sichtbar. (1909)

Nun, ein echter Werwolf ist es also wohl nicht gewesen, genauso wenig wie der Löwenmensch aus dem Kuriositätenkabinett.

Etwas mehr Demut?

Aber dennoch: Vielleicht hätte auch mir etwas mehr Demut bei der Aufnahme der Erzählungen damals gut zu Gesicht gestanden. Möge diese kleine Geschichte eine spätes Eingeständnis allzu unbeschwerter jugendlicher Überheblichkeit sein.