Hansi, der Barackenjaust, wartet auf den Weihnachtsmann
23 schier endlose Dezembertage, vier Adventssonntage: Als Kinder konnten wir den Heiligen Abend kaum abwarten. Dann aber war der langersehnte Tag endlich da.
Ein Höhepunkt der Vorbereitungen auf das Fest war die Anschaffung eines Weihnachtsbaumes. Bei uns war das Sache des Hausherren, meines Vaters. Er war sehr bemüht, uns einen schönen, aber auch preisgünstigen, um nicht zu sagen, billigen Baum zu besorgen. Deshalb wartete er bis zum 24. Dezember. Er hoffte, einen der Restbäume zu ergattern, die kurz vor Verkaufsende angeboten wurden.
Manchmal waren aber selbst die ihm noch zu teuer oder für den Preis nicht schön genug. In solchen Fällen wurde mein Vater zum illegalen Baumfäller im Ziegeleibusch an den Baracken. Er hatte zwar fürchterliche Angst, erwischt zu werden, aber noch mehr davor, ohne Baum vor die Augen meiner Mutter zu treten. Natürlich gab es jedes Jahr wegen seiner Baumbeschaffungstaktik Ärger.
Das Schmücken begann meistens mit Verschönerungsarbeiten. Löcher wurden in den Stamm gebohrt, um Äste aufzunehmen, die an anderer Stelle entfernt werden mussten. Da die ganze Aktion nie ohne ein oder mehrere Schnäpschen ablief, wurde die Stimmung meines Vaters immer besser, die meiner Mutter wegen des fortgeschrittenen Nachmittages jedoch immer gereizter. Aber irgendwann war der Baum eingestielt. Das weitere Schmücken übernahm meine Mutter, später gemeinsam mit meiner Schwester Renate. Für mich waren das die schönsten Christbäume in der ganzen Gemeinde, vor allem, weil sie auch mit essbarem Schmuck wie Schokoringen, Zuckerkringel und Plätzchen behangen wurden.
Fester Bestandteil des Heiligabends war der Gottesdienstbesuch. Dieser trieb unsere erwartungsfrohe Stimmung bis zur Unerträglichkeit in die Höhe. Wir gaben in der Kirche noch einmal unser Bestes und versuchten, durch aktive Mitarbeit beim Singen und Beten unser Pluskonto beim Weihnachtsmann nach oben zu bringen. Geholfen hat das meistens nichts.
Wenn nach dem Segen die Glocken erklangen, das Orgelspiel verklungen und unsere Geduld am Ende war, machten wir uns auf den Heimweg. Wir wollten endlich die Bescherung. Meine Eltern verstanden es jedoch meisterhaft, die Spannung aufrechtzuerhalten.
Das Bescherungszimmer, Küche oder Wohnzimmer, war verschlossen. Erst wurde Abendbrot gegessen, obwohl wir nicht hungrig waren. Aus dem verschlossenen Zimmer waren geheimnisvolle Geräusche zu hören, dann ertönte eine Glocke. Die Tür öffnete sich, und wir durften hinein. Dort strahlte der schönste Weihnachtsbaum der Welt. Wir versammelten uns um ihn und sangen Weihnachtslieder.
Schandtaten stehen im goldenen Buch
Währenddessen verdrückte sich mein Vater, ohne dass ich es bemerkte. Und nach einer Weile klopfte es laut an die Tür. Alle zuckten zusammen. Dann stand er im Raum, der Weihnachtsmann: furchterregend, mit einem Bart aus Karnickelfell, laut gestikulierend. Er holte das goldene Buch hervor und las uns unsere Schandtaten vor, insbesondere meine. Das Verlesen wurde in der Regel durch den Gebrauch der Rute begleitet. Aber nach einer Weile, und nachdem ich Besserung gelobt hatte, wurde er zugänglicher und verteilte Geschenke.
Mit Ermahnungen für das kommende Jahr verabschiedete sich der Weihnachtsmann. Er wies daraufhin hin, dass er nächstes Mal meinen Vater sehen wolle. Mit ihm hätte er auch noch ein Hühnchen zu rupfen.
Nach einer Weile war mein Vater wieder bei uns und ließ sich staunend vom Weihnachtsmann erzählen. Allmählich ebbte die Anspannung ab, und wir Kinder widmeten uns den Geschenken und dem Weihnachtsteller. Der war mit Süßigkeiten bestückt, die man nur zur Weihnachtszeit bekam. Als „Füllmaterial“ dienten Nüsse, Äpfel und Apfelsinen. Nachdem wir ausgedehnt mit unseren Geschenken gespielt hatten – viele waren es nicht –, schliefen wir zufrieden ein.
Die Feiertage verliefen dann nach einem bestimmten Muster: Kindergottesdienst, danach Mittagessen. Es gab immer etwas Besonderes wie Huhn, Ente oder Kaninchen. Nachmittags besuchten wir Verwandte oder wurden besucht. Wir Kinder spielten dann meistens schon unsere Geschenke kaputt. Bei mir war es fast immer eine Eisenbahn, die sich aufziehen ließ und nur im Kreis fuhr.
Nach Weihnachten warteten wir ungeduldig auf Silvester. In Vorbereitung auf das Feuerwerk hatte ich alles mir zur Verfügung stehende Geld in Schweizer Kracher und Knallfrösche umgesetzt. Die wurden für 5 Pfennig pro Stück auch an Kinder verkauft. Ich kaufte sie bei Hartmann, einem kleinen Laden mit Gastwirtschaft am Kletterpoth. Gesammelt wurden sie in einer Zigarrenkiste. Später kamen sie auf meinen leeren Weihnachtsteller und wurden jeden Tag durchgezählt.
Silvester verbrachten wir im Familienkreis, aber auch schon mal mit den Nachbarn. An einen Jahreswechsel kann ich mich besonders gut erinnern: Es war gegen 18 Uhr. Breit grinsend kam mein Vater in den Hausflur gestürzt. Von den Nachbarn nebenan war ein dumpfer Knall, anschließend ein markerschütternder Schrei zu hören. Mein Vater hielt den Weihnachtsteller mit meinen Krachern in der Hand. Er hatte doch tatsächlich der Nachbarin, während sie auf der Toilette saß, durch das offene Fenster einen Schweizer Kracher ins Klo geschmissen. Das hätte ich mal machen sollen!
Übrigens hat er sich an diesem Abend mehrmals an meinenKrachern vergriffen, von deren Anschaffung er vorher gar nicht erbaut war. Nach Silvester wurde derTannenbaum geplündert undaller essbare Schmuck verzehrt. Das eigentliche Abschmücken erfolgte erst zu den Heiligen drei Königen.