Ein Fachwerkhaus hält im Industriegebiet die Stellung

Fachwerkhaus in Westerbönen. Foto (c) Karl Löbbe.

Wie die Arme eines stählernen Riesen recken sich die kantigen Träger des Portalkrans in Richtung des winzigen Fachwerkhäuschens. Gleichsam verängstigt drückt es sich hinter wenigen Büschen, sich scheinbar der Gefahr bewusst, von diesem Zeichen der Industriewelt an den Haken genommen zu werden.

Verloren wirkend, überragt von den Betonwällen der Gebäude großer Unternehmen, die sich im Bönener Industriegebiet angesiedelt haben, wirkt es wie ein Relikt aus vergangener Zeit – wie vergessen in seiner kleinen, grünen Oase, als ob es sich scheu verstecken wollte vor den am Rande sich auftürmenden Ungetümen industrieller Bauweise.

Wenn das Haus erzählen könnte, würde es davon berichten, dass es einst in guter Nachbarschaft stand mit gleichartigen, historisch wertvollen Fachwerkhäusern, in der typischen Bauweise ihrer Zeit, um die Jahre 1860 bis 1880 entstanden. Eingerichtet auf das Spärlichste: Küche, Wohnraum, Waschküche, oben die kleinen Schlafräume, kein Bad, Wasser aus dem Brunnen vor dem Haus.

Daneben ein Stall, eine Ziege, ein Schwein, wenn es hoch kam eine Kuh. Dahinter ein großer Garten – für die sich selbst versorgenden Menschen besonders wichtig. Deshalb wurde oft sogar noch Land hinzu gepachtet.

Es würde von seinen Bewohnern berichten, der Familie Hönneke, den Eltern mit ihren beiden Söhnen. Und stolz würde es sich an seine Nachbarn erinnern, deren klangvolle Namen wie Kremerskothen, Hegemann, Rohleder oder Pohlmann unter anderem von echter, westfälisch geprägter Bodenständigkeit zeugten.

Generationen kamen und gingen, das schmale Haus steht immer noch an seinem Platz. Es erfuhr einige Veränderungen, der jeweiligen Zeit angemessen. Und immer bot es seinen Bewohnern ein kleines Paradies im Grünen; fernab von Verkehr, Lärm und Betriebsamkeit.

„Rehe standen auf unserer Wiese, Fasane pickten unter den Büschen, Rebhühner durchstreiften Garten und Hecken, und auch der Fischreiher stelzte zum Teich, um sich seinen Anteil zu holen.“ Noch immer schwelgt Marianne Banaczak in Erinnerungen an diese unvergesslichen Naturschauspiele.

Bewohner müssen dem Industriegebiet weichen

Jäh wurde allerdings die Idylle unterbrochen. Im Juni 1991 erfuhren die Anwohner der Weetfelder Straße, dass sie mitsamt ihren Häusern dem wachsenden Industriegebiet weichen sollten.

Noch heute zeigt sich Peter Kremerskothen, der mit seiner Familie als erster sein Haus verließ und nach Dortmund zog, geschockt von der damals herrschenden Stimmungslage. „Manche Träne wurde verdrückt. Es war einfach schlimm und brutal. Hier lebten seit Jahren fast nur ältere Leute, die man jetzt von ihrer Scholle vertreiben wollte. Eine intakte Naturlandschaft, die herrlich großen Grundstücke, manche hatten Tiere, nicht nur Hund und Katze, auch Hühner und Gänse. Liebevoll und mit großem Ideenreichtum wurden unsere Häuser restauriert. Wie wollte man das ersetzen, was die Menschen mit viel Einsatz, Geld und Herzblut geschaffen hatten?“

„Aber,“ so würde das kleine Haus sich vielleicht einmischen, „geahnt hatten das die Bewohner und auch die Nachbarn schon eher. Doch niemand hatte ernsthaft damit gerechnet, dass zur Ausweitung des Gewerbegebiets „Am Mersch“ auch Flächen östlich der Weetfelder Straße gebraucht werden würden. Gefährlich nahe war schon das Woolworth-Gebäude herangerückt, um mich mit der Erweiterung des Industriegebiets von meinem Stammplatz zu verdrängen.“

Weiterhin könnte es davon berichten, wie sich der Widerstand der Bewohner organisierte, die mit verzweifeltem Bemühen das geplante Vorhaben noch zu verhindern versuchten. Aller Protest, alle Hinweise auf noch kürzlich genehmigte Anbauten, Renovierungen, sogar Neubauten, halfen nichts.

„Und so kam es, wie es kommen musste,“ schildert Friedrich Banaczak. „Nach und nach erlahmte der Widerstand. Seit dem ersten Spatenstich im Sommer 1992 waren bis 1994 sechs von zehn Häusern verkauft, mit den restlichen Bewohnern wurde weiter verhandelt. So verließen meine Nachbarn ihre Häuser; als letzter, soweit ich weiß, wich im Sommer 1996 der „Wiesenhof“ Pohlmann, seit 1837 in Familienbesitz, dem im Jahre darauf anrückenden Bagger.“

Mit Entsetzen mussten die ohnehin arg Gebeutelten sehen, dass das gesamte Inventar ihrer Häuser, von dem sie nach dem Gesamtverkauf nichts mitnehmen durften, jeweils kurz nach ihrem Auszug in die Hände von Plünderern und Vandalen fiel. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, ließen diese mitgehen oder schlugen es kurz und klein. „Fassungslos standen wir vor dem, was wir gehegt und gepflegt hatten und das nun einem irrsinnigen Zerstörungswahn zum Opfer gefallen war,“ empört sich noch immer Karina Kremerskothen.

Im August 1994 rücken die Bagger an

So war denn der eine oder andere sicherlich auch erleichtert, dass im August 1994 die Genehmigung zum Abriss erteilt wurde, der als erstes das Kremerskothen´sche Haus betraf.

Allerdings kann man sich das ungläubige Staunen, vielleicht sogar die Wut der ehemaligen Bewohner vorstellen, die inzwischen eine neue Heimat gefunden hatten, als bekannt wurde, dass „die Häuser (…) nach unserer Planung nicht im Weg standen. Sie hätten stehen bleiben können“, teilte die Wirtschaftsförderungsgesellschaft (WFG) des Kreises Unna mit. Doch die Errichtung des neuen Frachtzentrums der TransBahn AG stand dem entgegen. Sind dort also 120 bis 150 Jahre alte geschichts-trächtige Fachwerkhäuser wegen einer schlecht durchdachten Planung abgerissen worden?

Es gab auch Überlegungen hinsichtlich einer Nutzungsänderung, wie etwa die Einrichtung von Büros und Kleinbetrieben, beziehungsweise die Überlassung von Wohnungen an Angehörige aus den Betrieben, die schließlich doch Makulatur wurden. Die Bagger leisteten ganze Arbeit, wie der Einladungskarte zu einer Ausstellung des Heimat- und Geschichtsvereins der VHS Kamen-Bönen 1993 zu entnehmen war: „Hier stand ein Haus, dort ragt ein Kran – und ewig nagt der Baggerzahn!“

Im Schatten der Industriegiganten blieb ein kleines Fachwerkhäuschen als einziges erhalten – eben das der Familie Hönneke. Deren Erben, die Familie Banaczak, war 1998 nach Werl gezogen. Acht Jahre lang“, schildert Friedrich Banaczak und verdrückt dabei eine Träne, „haben wir unser Erbe, wie es sich gehört, mit viel Aufwand und Liebe renoviert. Von den ideellen Werten, die über Generationen in diesem Haus stecken und die ein Haus eigentlich erst zu einer Heimat werden lassen, will ich gar nicht reden.“ Leise ergänzt er: „Hin und wieder fahre ich doch mal vorbei.“

„Haus steht nicht im Weg“

Jetzt steht es da, allein gelassen, seiner früheren Nachbarn beraubt, umgeben von einem hohen Zaun, bedrohlich angenagt von näher rückenden Beton-Ungetümen. „Ein schönes Haus,“ hatte man bei der WFG geäußert, „es steht nicht im Weg.”

Heute ist das Haus vermietet. Und wenn man es nach seiner Zukunft fragen könnte? Es würde wohl nach einigem Nachdenken antworten: „Lasst mir noch ein bisschen Zeit, damit meine Vorgänger nicht so schnell vergessen werden!“