Hansi, der Barackenjaust, zieht mit seiner Familie um
Das Haus von Herrn und Frau Mai lag in der Mitte zwischen den obersten Baracken, direkt am Waldrand. Wenn der Wasserstand des heutigen Mergelbergteiches nicht ganz so hoch ist, kann man noch immer die Überreste des Zaunes sehen, der das Anwesen einst umgeben hat. Ich bin mir nicht ganz sicher, wann sich die Mais ihr Anwesen in Eigenhilfe errichtet haben, aber ich glaube, es war vor unserem Einzug in die Baracken.
Herr und Frau Mai waren hilfsbereite, ältere und liebe Leute, die sich ihren Unterhalt durch Schneiderarbeiten und Kleintierhaltung verdienten. Ob Herr Mai noch berufstätig war, ist mir nicht mehr in Erinnerung. Ich glaube, dass auch sie Flüchtlinge aus Schlesien oder Ostpreußen waren. Ihr selbstgebauter Bungalow bestand aus Holzbohlen und wurde jedes Jahr mit Teeröl oder Ähnlichem gestrichen. Das Teeröl verbreitete einen bestialischen Gestank, der mehrere Tage oder gar Wochen anhielt. Da immer in der warmen Zeit gestrichen wurde, damit das Haus schnell abtrocknen konnte, war der Gestank noch größer, und wir versuchten die Gegend zu meiden.
Frau Mai war in Sachen „Nähen“ ein Phänomen. Sie schneiderte aus alten Kleidern, Stoffresten, Decken und anderem verwertbarem Material für die Bewohner der Baracken die Kleidungsstücke, die wir uns aus einem Laden nicht leisten konnten. Ihre Preise waren günstig, manchmal auch verbunden mit einer Gegenleistung, sei es nun ein Kuchen oder eine andere Gefälligkeit. Die Kleidung von damals unterschied sich stark von der heutigen Mode. Ich trug in der kalten Jahreszeit als Unterwäsche gerippte, lange Strümpfe, die mit einem Leibchen und Strumpfbandhaltern gehalten wurden. Was habe ich mich geschämt und alles versucht, um dieses zu verheimlichen. Bei den Anproben hatte die gute Frau Mai immer eine kleine Leckerei für uns parat. Ich glaube, sie konnte meine Mutter gut leiden, die beiden verstanden sich auch recht gut.
Misstrauisch gegenüber den Mitmenschen
Bei Herrn Mai bin ich mir bis heute nicht so sicher, wie man ihn nehmen musste, er war ein merkwürdiger Kautz. Er hatte eine Menge Viehzeug zu versorgen – außer Enten, Gänsen, Hühnern und Kaninchen hielt Herr Mai zwei oder drei Schafe. Da er sehr misstrauisch gegenüber seinen Mitmenschen war, passte er wie ein Schießhund auf sein Viehzeug auf. Auch seinen Nutzgarten mit jeglichem Gemüse und Beerenobst bewachte er mit Argusaugen. Sein Misstrauen war wohl gerechtfertigt, auch wir Kinder bedienten uns manchmal an seinem Gemüse, ob Möhren, Kohlrabi, Erbsenschoten und anderem. Da er schon älter war, hatten wir nicht so schnell etwas zu befürchten. Wir konnten unsere Schnelligkeit ausspielen.
Seine Schafe weideten in der Regel auf einem großen Platz in der Mitte zwischen den Baracken. Wenn der als Bolzplatz genutzt wurde, wurden die Schafe von den Akteuren kurzerhand des Platzes verwiesen und woanders angepflockt. Das erboste Opa Mai sehr und er ließ sich zu Schimpftiraden gegenüber den Kickern hinreißen, jedoch meist ohne Erfolg. Ich weiß nicht, wann die Eheleute Mai gestorben sind, bei unserem Auszug aus den Baracken lebten sie noch in ihrem Haus. Sie sind aber wohl recht alt geworden. Im Nachhinein erstaunt mich dies. Damit ist nämlich wohl bewiesen, dass Teeröl doch nicht so gesundheitsschädlich ist.
Nachdem mein Vater im August 1956 seinen Arbeitsplatz auf der Schachtanlage aufgab und als Gemeindearbeiter auf dem Bauhof der Gemeinde seinen Dienst versah, war abzusehen, dass meine schöne Zeit der Kindheit in den Baracken sich dem Ende näherte. Ein erster Einschnitt war der Auszug meiner Schwester Renate im Jahr 1957. Sie trat eine Ausbildung zur Krankenschwester in Hamburg-Buchholz an. Es war das erste Mal, dass ich von einem Familienmitglied für so lange Zeit Abschied nehmen musste. Ich habe lange gebraucht, um den Abschiedsschmerz zu überwinden.
Im Frühjahr 1958 war es dann auch für den Rest der Familie soweit: Die Dienstwohnung an der Bachstraße, auf dem Bauhof der Gemeinde, war frei geworden. Der Umzug aus den Baracken erfolgte mit Hilfe eines Gemeinde-Lkw und war schnell erledigt. Der größte Teil der Möbel verblieb gleich auf der benachbarten Müllkippe, da sie für die neue Wohnung nicht mehr gut genug waren. Inzwischen hatten wir auch das nötige Kleingeld für eine neue, bessere Einrichtung, auch Dank des sogenannten Lastenausgleiches für Flüchtlinge, einer Art Wiedergutmachung für die verlorene Heimat und damit verbundene Verluste von Hab und Gut. Für einen gebrauchten Fernsehapparat reichte das Geld allerdings doch noch nicht, darauf mussten wir noch einige Zeit warten
An der Bachstraße begann ein neues Kapitel meiner Kindheit. Nun machte sich meine, in den Baracken erlernte Flexibilität bemerkbar, die es mir ermöglichte, mich relativ schnell einzuleben und mir die neuen Möglichkeiten zu Nutze zu machen.
Freizeit auf dem Fußballplatz
Ab sofort verbrachte ich einen Großteil meiner Freizeit auf dem benachbarten Sportplatz am Bockeldamm. Dort konnte ich meine auf dem Bolzplatz an den Baracken erworbene Fähigkeit des Fußballspielens nutzen, und schloss mich dem Fußballverein SG Bönen an. Auch das in unmittelbarer Nähe liegende Freibad sowie das sich im Bau befindliche Jugendheim in der heutigen Bücherei verhalfen mir zu viel Freizeitaktivitäten. Ich hatte mich zudem entschlossen, weiterhin die Hellwegschule in meinem alten Klassenverband zu besuchen, auch wenn ich dadurch einen erheblich weiteren Schulweg in Kauf nehmen musste.
An dieser Stelle will ich das Kapitel „Dreihausen“ mit den Worten Jean Pauls (1763 bis 1825) beenden: Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.“ 1968 wurden die Baracken dem Erdboden gleichgemacht und das Gelände teilweise als Wasserflächefür den Mergelbergteich und als Fläche für die Mülldeponie, die später aufgeforstet wurde, genutzt.