Hansi spielt den Nikolaus

Die Bewohner der Baracken genießen die Adventszeit / Große Feier auf der Zeche

In der dunklen, kalten Jahreszeit verbrachte Familie Topel viele Abende mit Gesellschaftsspielen. In der Vorweihnachtszeit wurden außerdem Geschichten vorgelesen und Lieder gesungen. Foto: Topel

Wenn der Herbst sich dem Ende zuneigte, die Tage ungemütlich, kalt und neblig wurden, begann für uns eine andere, ruhigere Zeit. Die Familie hockte abends öfter zusammen, und wir spielten Gesellschaftsspiele wie „Mensch ärgere dich nicht“, „Dame“, „Mühle“, „Halma“ und andere. Das Familienleben spielte sich in der kalten Jahreszeit fast ausschließlich in der Küche ab. Das war der wärmste Raum in der Wohnung, da dort ständig der Kohleküchenherd brannte. Der hatte auch einen Backofen, in dem die leckersten Kuchen und Plätzchen gebacken wurden. Und hin und wieder durchzog ein anderer, köstlicher, süßlicher Geruch die Wohnung. Dann wurden Lageräpfel zu Bratäpfeln. Dampfend und knusprig kamen sie aus dem Ofen. Durch unseren Heißhunger auf dieses leckere Gebilde vergaßen wir oft, dass es aus dem Backofen kam und demnach sehr heiß war. Die Folge davon war, dass wir uns so manches Mal den Mund verbrannten.

Mit dem ersten Advent, und nicht, wie heute üblich schon im Oktober, begann für uns die Vorweihnachtszeit. In dieser Zeit entdeckte ich meine Freude daran, anderen eine Freude zu bereiten. Ich spielte Nikolaus für zwei Kinder aus der unter uns liegenden Baracke. Die Familie war noch viel schlechter dran als wir. So legte ich kleine Süßigkeiten auf die Fensterbank und klopfte an die Scheibe. Aus einem Versteck heraus beobachtete ich mit riesigem Vergnügen die Freude der Kinder. Die Süßigkeiten hatte ich mir entweder von meinen eigenen abgespart oder mir bei Frau Frens ersungen.

Hoffnung auf das Wiedersehen

Frau Frens war die Inhaberin der Bäckerei auf dem Kletterpoth, bei der wir all unsere Backwaren einkauften – natürlich auch mit „anschreiben lassen“. Anschreiben hieß, dass man zirka zwei Wochen auf „Pump“ Waren von dem Händler bekam. Nach der nächsten Lohnzahlung wurden die Schulden dann beglichen. Das war Voraussetzung, dass man einen neuen Anschreibzettel beginnen konnte. Ich setzte mich also auf die Fensterbank der Bäckerei und sang die vorher in der Schule gelernten Adventslieder – und immer konnte ich mit einer kleinen Belohnung rechnen.

In den ersten Jahren war die Adventszeit auch mit der Hoffnung vieler Familien verbunden, Auskunft über ihre, bis dahin durch den Krieg verschollenen Angehörigen zu bekommen. Fast jede Familie wartete auf Nachricht vom Suchdienst des Roten Kreuzes über einen Angehörigen In dieser Zeit wurden als Zeichen der Hoffnung und des Wunsches auf ein Wiedersehen Kerzen in die Fenster gestellt. Viele Familien warteten allerdings vergebens auf ihre Angehörigen.

An den Adventssonntagen wurden hingegen die Kerzen an dem selbst gefertigten Kranz angezündet, und die ganze Familie saß um den Tisch herum. Es wurden Geschichten vorgelesen und Adventslieder gesungen. Dabei wurden Nüsse geknackt und selbstgebackene Plätzchen verzehrt – und natürlich die schon erwähnten Bratäpfel. Ein Höhepunkt in diesen besonderen Wochen war dann der Nikolaustag. Der heilige Mann kam allerdings nicht wie heutzutage als schokoladiges Fertigprodukt zu allen Kindern. Nur in saubere, selbst geputzte Stiefel oder Schuhe legte der Nikolaus einen Stutenkerl.

Nachmittags ging es dann zur Nikolausfeier der Arbeiterwohlfahrt in die Werkshalle der Zeche. Dort kamen der Nikolaus und Knecht Ruprecht zu fast 400 Kindern. In der Schule wurde, je nach Anschauung des Lehrers, in diesen Tagen der Unterrichtdurch Geschichten und Musik aufgelockert. Das, und die besonderen Höhepunkte in der Familie sorgten dafür, dass wir Kinder den Tag des Heiligen Abends und damit die Bescherung kaum noch erwarten konnten. Aber dann, mit dem Ferienbeginn, kam er doch endlich.