Wenn die Blätter fallen

Hansi, der Barackenjaust lässt Drachen steigen und stoppelt Kartoffeln

Nach den Sommerferien begann für uns schon die Herbstzeit. Das kündigte sich mit dem Abernten der Getreidefelder an. Damals gab es noch mannshoch stehendes Getreide. Die Ernte erfolgte in mehreren Arbeitsgängen und ohne Mähdrescher: Mähen, Garben binden und zusammenstellen, Trocknung auf dem Feld – je nach Witterung mehrere Tage lang. Danach wurde das Getreide mit der Gabel auf Anhänger geladen. Dieser wurde meist von Pferden in die Tenne des Bauern gezogen. Dort begann das Dreschen der Garben, das Stroh wurde auf dem Boden gelagert und später als Streu für Kühe und Schweine genutzt.

Hansi (rechts) und seine beiden Schwestern hatten auch im Herbst allerhand zu tun. Foto: pr

Waren die Felder erst abgeerntet, suchten wir sie nach heruntergefallenen Ähren ab. Diese wurden von unseren Müttern als Hühnerfutter und Nahrungsergänzung genutzt. Da wir Nachkriegskinder fast alle an Mangelerscheinungen litten, waren sie sehr willkommen. Zusammen mit dem ekligen Lebertran und klein gestoßenen Eierschalen sollten sie dafür sorgen, dass wir gesund blieben.

Nicht bei allen Kindern beliebt: Lebertran.

Nach der Ernte begann die Drachenzeit. Die Drachen wurden von uns selber gebastelt. Je nach Geschick entstanden normale Modelle, aber auch Mehreck- und Kastendrachen. Es war nicht immer leicht, an Bastelmaterial und Bindfaden zu kommen, deshalb bestanden die ersten Drachen aus Zeitungspapier. Als Kleber dienten Mehlpampe und gekochte Kartoffeln. Sogar mein Vater half mit Begeisterung beim Basteln und Steigenlassen. Für uns gab es nichts Schöneres, als die Wickel in der Hand, langsam Band gebend, das Steigen des Drachens zu beobachten. Wenn er dann oben stand, ließen wir Papierbriefchen an der Schnur nach oben steigen. Das funktionierte aber nur einwandfrei, wenn diese wenige Knoten hatte. Schlug das Wetter plötzlich um und Regen oder Sturm kündigte sich an, mussten wir ackern und die Wickel drehen, damit der Drachen nicht abschmierte und in einer der oberirdischen Stromleitungen landete. Eine Bergung war dann oft nicht möglich. Auch der nahe gelegene Wald schluckte so manchen Drachen. Mehrere Hundert Meter Band – das war keine Seltenheit – aufzuwickeln ging ordentlich in die Arme. Es lag schließlich ein ganz schöner Zug auf der Leine.

Mühsame Ernte für den Kellervorrat

Herbstzeit verbinde ich aber auch mit der Kartoffelernte. Als kleiner Steppke bin ich mit meinen Eltern und Geschwistern mit dem Fahrrad zum Stoppeln gefahren. Stoppeln hieß, dass man vom Bauern gegen einen kleinen Obolus die Möglichkeit bekam, nach der eigentlichen Ernte das Feld in einem bestimmten Bereich nachzuarbeiten. Dort fand man untergetretene Kartoffeln, die übersehen worden waren, oder auch zerschnittene oder angedötschte Exemplare. Wir mussten sehr fleißig sein, um einen Sack zu füllen. Wenn man bedenkt, dass meine Eltern in den Anfangsjahren fast den gesamten Bedarf an Einkellerungskartoffeln zusammengestoppelt haben – also zirka zehn Zentner –, kann man sich ausmalen, was sie auf sich genommen haben. Die Fahrräder wurden schließlich nach stundenlanger Arbeit jeweils mit zwei Sack Kartoffeln beladen und nach Hause geschoben. Ich saß dabei oben auf einem Kartoffelsack. Manchmal war mein Vater auch „zufällig“ vor Ort, wenn das Feld noch nicht ganz abgeerntet und der Bauer nicht in der Nähe war. Dann ging die Ernte wesentlich schneller.

Wir nutzten den Herbst außerdem, um große Laubhaufen unter Bäumen mit ausladenden Ästen aufzuschichten. Der Baum wurde erklommen, und wir sprangen von einem Ast in den Haufen. Natürlich musste dieser ständig erneuert werden, aber die Mühe wurde durch dasSprungvergnügen belohnt. Beulen und Schrammen blieben nicht aus, wenn der Haufen nicht hoch genug war oder sich noch Äste im Haufen befanden.

Dieses Laubhaufenspringen dauerte nur ein paar Tage. Danach wurden die Tage kürzer und es abends früh dunkel. Für uns begann somit die Zeit der Versteckspiele, des Topfschlagens und anderer Fantasiespiele. Treffpunkt waren die Laternen, die an der Zufahrt standen. Ich glaube, es waren nur fünf Laternen für alle acht Baracken.

Regelmäßig vergaßen wir beim Spielen die Zeit und waren nicht pünktlich zum Abendessen daheim. Die Pfeifsignale unserer Eltern wurden aufgrund der spannenden Spiele geflissentlich überhört. Irgendwann trieb uns der Hunger aber doch nach Hause, wohl wissend, dass uns als erzieherische Maßnahme eine schmerzhafte Ohrfeige erwarten konnte. Und meistens war diese Sorge berechtigt. Aber ein Abendbrot aus vorher eingeweichten, mit Margarine angebratenen und mit Zucker bestreuten Brotscheiben ließ uns die Haue schnell vergessen. Auch Kartoffelklößchen aus rohen, geriebenen Kartoffeln, in Milch aufgekocht und mit Zucker gesüßt, waren ein willkommenes Abendmahl.

Es gab damals bei uns sehr viele Gerichte, die aus der pommerschen Heimat meiner Eltern stammten. Nicht alle davon waren bei uns Kindern beliebt, Innereien zum Beispiel. Ein Gaumenschmaus waren hingegen die Reibekuchen, von uns Flinsen genannt. Die wurden aus den gestoppelten Kartoffeln gerieben und von meiner Mutter in einer Pfanne auf dem blanken Kohleherd zubereitet. Der Duft lockte natürlich auch die Nachbarskinder an, und ich kann mich nicht erinnern, dass sie jemals von meiner Mutter abgewiesen wurden. Wenn das Kartoffelmus nicht ausreichte, wurde halt noch mal gerieben, von Hand selbstverständlich. Diese Freigiebigkeit und Hilfsbereitschaft zeichnete das Zusammenleben in den Baracken aus.