Von der Kneipe zur Fabrik

Bevor das Gebäude von Kettler übernommen wurde, war die Gaststätte Jackenkroll mit ihrem Saalbau ein beliebter Treffpunkt. Foto: Gemeindearchiv

Kettler-Gebäude in Flierich war früher ein Gasthaus mit wechselvoller Geschichte

Obwohl es zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits zwei Gaststätten im kleinen Dorf Flierich gab, entwickelte sich das neu gebaute Gasthaus mit seinem Saalbau schnell zu einem wichtigen Treffpunkt. Als der Wirt Schwätter-Jackenkroll von Carl Bromberg im Jahre 1912 das Gasthaus übernahm, schufen sich Knappen-, Krieger- und Landwehrvereine sowie der Turnverein dort ihr Domizil. Für die Turner war freitags Trainingsbetrieb im Saal. Der verwandelte sich nach dem Aufbau von Barren, Reck und Pferd regelmäßig in eine Turnhalle. Perfekte Turner gab es aber wohl nicht. Erfolge waren in erster Linie beim Weithochsprung und im Stemmen zu verzeichnen. Turnwart Friedrich Kleff wusste, woran es lag: „Wenn wir auch im Turnen noch keine großen Techniker sind, aber meine Jungs, die ham was inne Maugen!“, wird er in der Festschrift zur 100-Jahr-Feier des TV Germania Flierich-Lenningsen zitiert.

Musste der Saal für andere Veranstaltungen, wie zum Beispiel das Erntedank- oder ein Tanzfest, vorbereitet werden, wurden die Geräte einfach an die Seite geschoben, erzählt Friedhelm Pankauke, dessen Vater Turner und Leichtathlet war. Nach dem Krieg wurde im Juni 1946 der Turn- und Sportbetrieb wieder aufgenommen. Man wollte den durch Krieg unterbrochenen Turn- und Sportbetrieb des 1891 gegründeten Vereins TV Germania wieder aufleben lassen.

Die Leichtathletik hatte neben dem Fußball lange Zeit einen hohen Stellenwert, wie Karl-Ernst Huneke berichtet, der 1955 gemeinsam mit Manfred Plümpe zu den Spitzensprintern gehörte. Immerhin liefen die beiden die 100-Meter-Strecke in 10,9 Sekunden.

Die Sportfeste dauerten meistens den ganzen Tag, und endeten nie ohne geselligen Abschluss in der Gaststätte. Mit Platz für rund 400 Besucher bot der Saal genug Raum für solche Ereignisse. Das Germania-Turnfest zum 50-jährigen Bestehen 1951 war das letzte große Fest im Saalbau mit Turndarbietungen.

Auch als Tanztreffpunkt war Jackenkroll beliebt. In der Gaststätte gab es über der Theke eine Empore. Dort spielte eine Kapelle zum Tanz auf, zu dem regelmäßig viele junge Leute von auswärts kamen. Und ebenso regelmäßig gab es Keilereien, um die vermeintliche Konkurrenz um die Fliericher Damenwelt zu vertreiben – meist mit Erfolg. So wird es jedenfalls erzählt.

Vielen Zeitzeugen ist die Kirmes auf dem Gelände des Saalbaus und in den benachbarten Straßen in Erinnerung geblieben. „Jedes Jahr am dritten Mittwoch im Juni hat sie stattgefunden. Es gab für die damaligen Verhältnisse viel Trubel“, erzählt etwa Karl-Heinz Röhr. Der Rummel reichte vom alten Pfarrhaus bis weit unterhalb der Gaststätte Böinghoff. Dort, wie auch bei Jackenkroll, gab es ein Karussell, von Pferden angetrieben. Nach dem Anschluss ans Stromnetz im Jahre 1920 wurden modernere Fahrgeschäfte aufgebaut, berichtet Erich Lerch in seiner Fliericher Chronik. Schießbuden, Wahrsagerinnen, Süßwaren, Wurst- und Fischstände sorgten für Abwechslung. Dazu gehörten auch fahrende Sänger und Musikkapellen, die in den Sälen auftraten. Der Andrang muss groß gewesen sein. 1928/1929 zählte man an die 800 Fahrräder von Besuchern.

Auch Inge Neuperger weiß noch genau, wo die Schiffschaukel stand und wo das Kettenkarussell seine Runden drehte. Links und rechts der Straße bis hinunter zu Böinghoff habe eine Bude nach der anderen gestanden. „Da war unheimlich viel Betrieb – etwas, was man sich gar nicht mehr vorstellen kann.“ 1961 war es dann vorbei mit diesem Vergnügen.

Als Schulkind der Dorfschule an der Disselstraße habe sie jedes Jahr am Weihnachtsspiel im Saalbau teilgenommen, berichtet Inge Neuperger weiter. Um den Saal für diese Winterveranstaltungen einigermaßen warm zu bekommen, habe Karl-Heinz Röhr Tag und Nacht an zwei Öfen gehockt, die er mit Kohlen in Gang hielt, erinnert sich Karl-Ernst Huneke. Diese hatte man vorher bei Bergleuten eingesammelt.

Aber der Saalbau hat auch schmerzliche Ereignissen erlebt. 1914 wurde der Saal zum Gefangenenlager umfunktioniert. Ähnlich verfuhr man während des Zweiten Weltkrieges. Von 1941 bis 1945 waren dort Kriegsgefangene untergebracht, in erster Linie Franzosen und Polen, wie Manfred Plümpe aus Lenningsen berichtet. Tagsüber auf den umliegenden Bauernhöfen beschäftigt, wurden sie abends wieder in ihre Unterkunft gebracht. In den 1970er Jahren kehrten einige ehemaligen Kriegsgefangenen aus Frankreich nach Flierich zurück, um den Ort zu besuchen und sich bei Schneidermeister Erich Lerch zu bedanken, der ihre Kleidung damals repariert hat, berichtet seine Tochter Gudrun Richter.

Von 1956 bis 1959 wurden im Saalbau über 200 Vertriebene aus Ostpreußen und Schlesien untergebracht. Ähnlich wie heute in den Flüchtlingsunterkünften wurde jeder Familie ein kleiner Raum zugewiesen, berichtet Karl-Ernst Huneke, der mit anderen das Gebäude beheizte.

Nachdem die Menschen ausgezogen waren, wurde das Gebäude geräumt. Es stand einige Jahre leer, bis es von der Firma Kettler übernommen wurde.